Fineart-Streetphotography oder fotografische Geheimnisse klassischer Strassenfotografie

Foto: Michael Mahlke
Foto: Michael Mahlke

Eine Analyse fotografischer Techniken klassischer Streetfotografie und Schnappschussfotografie mit praktischen Tipps – mit meinen Inspirationen von Henri Cartier-Bresson aus heutiger Sicht

Fineart-Streetphotography – die feine Art der Strassenfotografie

Früher war Streetphotography bzw. Strassenfotografie Fotografie auf der Strasse. Dort fand das öffentliche Leben der Menschen statt und dort wurde fotografiert.

Später wurde aus der Strasse der sogenannte urbane Raum. Die Begriffe spiegeln auch die Veränderungen wieder. Aus einem konkreten Begriff wurde eine abstrakte Größe. Das ist Wortsymbolik für den Zeitgeist und die Veränderungen.

Aus meiner Sicht bedeutet Strassenfotografie heute unterwegs zu sein.

Das hat etwas von dem, was zum Beispiel Henri Cartier-Bresson auszeichnete. Denn er blieb nicht auf der Strasse, er machte überall Schnappschüsse – überall da, wo er unterwegs war.

Schauen wir da doch mal genauer hin!

 

Was zeichnet die Art des Fotografierens von Henri Cartier-Bresson aus?

Er selbst sagte dazu einmal rückblickend: „Ja jetzt bin ich museal, eine Autorität von gestern. Überholt von der Farbfotografie, die mir nicht liegt. Farbe ist Oberfläche, Linie das Charakteristische – aber wer will das noch hören?“

Dieses Zitat ist viel mehr als ein Gedanke. Er beschreibt hier auch die Oberflächlichkeit einer neuen Zeit, die bunt ist aber dafür keinen eigenen Charakter mehr hat. Und dies alles in sechs Worten!

Fotografisch betrachtet zeigt sich hier auch eines seiner Erfolgsrezepte: der Blick auf die Strukturen eines Bildausschnitts. Doch es gibt natürlich noch mehr Kriterien.

Cartier-Bresson wurde berühmt, weil er u.a. folgende Merkmale hatte:

  • er war oft an den Brennpunkten des Weltgeschehens – das ermöglichte hohes Interesse der Öffentlichkeit an den Motoven
  • er fotografierte oft das, was andere nicht fotografierten – das ermöglichte ungewöhnliche Blicke
  • er benutzte das Kleinbildformat und legte sich dabei auf die Leica fest – das war damals praktischer für unterwegs
  • er gestaltete seine Fotos nach der Geometrie der Malerei – das ermöglichte auch ästhetisch gute Fotos.

Beim Fotografieren selbst zeichnete sich Cartier-Bresson u.a. durch folgendes Vorgehen aus:

  • Diskretion,
  • keine entlarvenden oder verletzenden „unschönen“ Fotos und
  • echte Momente mit künstlerischem Aufbau (Geometrie).

Das Buch „Der Schnappschuss und sein Meister“ enthält einen weiteren Aspekt der Streetphotography, die Technik des Schnappschusses.

 

Was ist ein Schnappschuss?

Heute wird so getan als ob es auf die Fokussierungsgeschwindigkeit ankommt. Schnappschussfähigkeit wird eigentlich zunehmend nur noch als Auslösegeschwindigkeit verstanden.

Die Fotos von Cartier-Bresson sind aber nicht im superschnellen Schnappschussmodus gemacht worden, weil es den da noch nicht gab.

Und jetzt?

Ist ein schneller Autofokus eine gute Schnappschussfähigkeit?

Mitnichten.

Ein guter Schnappschuss ist ein geometrisch gestaltetes Fotos, welches eine Situation erfasst. Damit ist der schnelle Autofokus eine vielleicht wünschbare technische Eigenschaft, aber allein keinesfalls wesentlich für den Schnappschuss.

Seit dem Erscheinen von Henri Cartier-Bressons Scrapbook wissen wir, dass auch er mehr als ein Foto machte in einer Situation. Im Prinzip tat er das, was heute in der digitalen Zeit viel einfacher ist. Er machte eine Reihe von Aufnahmen und wählte die aus, die im am besten erschien. Da er aber nicht immer auswählen konnte, weil er unterwegs war und die nicht entwickelten Filmrollen wegschickte, gestaltete er schon bei der Aufnahme.

Das ist eigentlich die große Kunst.

Ich nenne dies heute Fineart-Streetphotography.

Es ist die feine Art der Strassenfotografie, die sich an klassischen Merkmalen orientiert – gerade auch heute in einer Zeit, in der alles möglich ist aber nicht alles dadurch besser wird.

Wie komme ich dahin und was muss ich dafür tun?

Sehr wichtig ist es, zu wissen, was man tut. Viele Menschen nehmen eine Kamera und knipsen los. Das reicht nicht. Man muss sich vorher im Kopf klar machen, was man will, damit man dann auch intuitiv vorgehen kann – wenn man es will.

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Was kann man mit der Fotografie alles machen? – Grafik: Michael Mahlke

Sie sehen oberhalb eine Grafik, die dies alles einmal systematisch darstellt. Es ist es wichtig, Entscheidungen zu treffen:

  • Wollen Sie ihre Fotos verkaufen? – Dann ist es wichtig so zu fotografieren wie der „Markt“ es gerade will
  • Wollen Sie mit ihren Fotos dokumentieren? – Dann ist es wichtig, auf Fotos Botschaften zu finden und entsprechende Situationen zu fotografieren.
  • Wollen Sie mit ihren Fotos experimentieren? – Dann ist es wichtig, zu wissen, welche Experimente es sein sollen, z.B. mit/ohne Bokeh, mit/ohne Zoompbjektiv etc.
  • Welche Motive wollen Sie fotografieren? – Das hat Einfluss auf die Kamerwahl, die Objektivwahl und die Art des Fotografierens
  • Welche Regeln sollen gelten? – Das ist wiederum wichtig für Fragen wie Veröffentlichung im Internet oder Verkaufen (z.B. die Einhaltung des Rechtes am eigenen Bild)

Es gibt noch mehr Fragen. Viele davon werden Ihnen erst einfallen, wenn Sie die Fragen hier beantwortet haben oder beantworten wollen.

 

Was kennzeichnet Fineart-Streetphotography?

Dafür gibt es in meinen Augen klare Kriterien, die ich herausgearbeitet habe. Diese gelten immer.

fineartstreet

Wer es schafft ohne Nacharbeit alle fünf Kriterien mit einem Foto zu erfüllen, der hat ein 5-Sterne-Foto gemacht, das beste Fineart-Strassenfotografie ist.

Das schafft man nicht immer und schon gar nicht jedes Mal. Aber oft reichen auch drei oder vier dieser Kriterien für ein gutes Fotos.

Und es ist vor allem eine dauernde Aufgabe.

 

Was kann ich tun, um besser zu werden?

Nun kommen wir zu drei praktischen Übungen, die mehr als einmal gemacht werden sollten. Dabei geht es um die Themen Sehen, Auswählen und Begegnung.

 

1. Loslassen und Blick schärfen im Strassencafe

Setzen Sie sich in ein Strassencafe und beobachten Sie ohne Kamera bewusst die Menschen, die vorbeigehen. Schauen Sie zu, was passiert. Das braucht seine Zeit.

Irgendwann werden Sie den Punkt erreicht haben an dem Sie sagen, das wäre aber ein gutes Foto geworden. In diesem Moment haben Sie es geschafft ihren Blick zu schärfen und ein Foto im Kopf entstehen zu lassen.

So vorzugehen kann aber dauern. Wichtig ist, keine Kamera mitzunehmen, mindestens eine Stunde dort zu sitzen und genau das zu tun, was ich gerade beschrieben habe. Wenn es nicht beim ersten Mal funktioniert wiederholen Sie es.

Und machen Sie nur Fotos im Kopf – ohne Kamera. Daraus werden dann die Merker, die sie nicht mehr loslassen, wenn Sie Glück haben.

 

2. Festlegen und Schaufenster fotografieren

Nehmen Sie eine Kamera mit einer Festbrennweite mit oder stellen Sie eine Zoomkamera auf eine Brennweite ein. Versuchen Sie, nur mit dieser Brennweite zu fotografieren. Fotografieren Sie nur Schaufenster aus den unterschiedlichsten Perspektiven. Versuchen Sie ein Schaufenster mit 50 verschiedenen Fotos und Blickwinkeln aufzunehmen. Betrachten Sie dies alles zu Hause am PC und bewerten Sie die Fotos. Welche gefallen Ihnen am besten und warum – welche gefallen Ihnen nicht?

 

3. Üben vor Ort mit Inszenierung

Machen Sie sich einen schönen Tag mit einer Person, die gerne mitkommt und sich fotografieren läßt. Üben Sie mit dieser Person verschiedene Perspektiven auf der Strasse in der Stadt oder dort, wo Menschen sind und fotografiert werden darf. Dazu gehört das Freistellen und die Nichterkennbarkeit dritter Personen, dazu gehört der schnelle Schnappschuss beim Gehen, beim Eis essen, beim Schaufensterbummel, in der Strassenbahn etc.

Kontrollieren Sie zu Hause am PC, welche Fotos gut sind und welche nicht.

Dies sind die drei ersten Schritte, um sicher und erfolgreich im Umgang mit der Kamera zu werden und sich dem Thema konkret zu nähern in der Praxis.

So banal sich das anhört, so schwierig ist es tatsächlich.

 

Waren diese Gedanken jetzt „Geheimnisse“? Ich denke schon, weil dieses Wissen in dieser Form und auf die heutige Zeit umgemünzt so nirgendwo zu finden ist. Es wird versteckt oder es wird gar nicht entdeckt.

 

 

 

About Michael Mahlke

Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte. Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. So kam ich zum Fotografieren. Mehr hier - http://dokumentarfotografie.de/2022/09/17/der-fotomonat-und-seine-zeiten/

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